Gegründet 2002
© 2013
Filmproduktion: Markus Lobner -
mail: video@crow-
Ich erinnere mich an die Großmutter meines Vaters. Ich stand unlängst an ihrem Grab
und erkannte an dem eingetragenen Sterbedatum, dass ich zu dem Zeitpunkt ihres Todes
4 Jahre alt gewesen sein musste.
Ich erinnere mich nur an eine einzige Begebenheit.
Meine Schwester und ich besuchten unsere Urgroßmutter, die gerade zu Mittag aß. Sie
saß am Esstisch in der Küche des Hauses, das sie gemeinsam mit meiner Großmutter
bewohnte. Als sie mich sah, hielt sie inne. Sie hörte auf zu essen und schob ihren
Teller zu mir herüber. „Gib es dem Kind, das hat es nötiger als ich“ sagte sie zu
meiner Großmutter, „So sahen die Kinder aus, die sie im Lager haben verhungern lassen“.
Mein Aussehen hatte meiner Urgroßmutter Angst gemacht. Ich war längere Zeit krank
gewesen, abgemagert, schwach, aber ich hatte die Krankheit überwunden. Dennoch rief
mein Anblick traumatische Erinnerungen in ihr wach. In der Zeit, als die Lager bestanden,
mussten viele Kinder verhungert sein. Für meine Urgroßmutter war diese Situation
eine Reaktivierung ihres Traumas gewesen. Die Angst, wieder ins Lager zu müssen,
die Erinnerungen, die Entbehrungen lebten in ihr wieder auf. Sie hatte sie nie wirklich
verarbeiten können. Sie hörte zu essen auf und starb kurz darauf, wie alte Menschen
das tun. Völlig verwirrt, gefangen in ihrer Angst, desorientiert. Meine Urgroßmutter
war zu diesem Zeitpunkt 85 Jahre alt.
Warum erinnere ich mich heute daran? Weil die
Angst meiner Urgroßmutter so ursächlich mit mir zusammenhängt. Weil ich der Grund
für die Reaktivierung ihres Traumas war. Sie lebte in der Befürchtung, ich könnte
morgen nicht mehr leben, könnte sterben wie eines jener Kinder, das sie im Lager
sterben gesehen haben musste. Dieses Erlebnis war ein Schock für mich und grub sich
in mein Gedächtnis. Ich habe in diesem Moment begriffen, was meine Großmutter erlebt
haben musste. Ein Kind kann derartige Momente nicht verarbeiten. Es speichert sie
abgeschlossen in einem Bereich seines Gedächtnisses, um sie zu einem späteren Zeitpunkt
abzurufen und zu verarbeiten. Die Angst, ich könnte sterben wie eines der Kinder
im Lager, hat mich seither begleitet. Die Gewissheit, überlebt zu haben, hat mir
in einigen Momenten Antrieb gegeben, weiterzuleben.
Die Eindrücke zweier Reisen in
die Batschka mit meinem Vater und meiner Mutter im Jahr 2006 und die Impressionen
der Landschaft und der Menschen, haben diese Erinnerung wieder wach werden lassen.
Es waren außerordentlich bewegende Momente. Ich beschloss einen Film über das Leben
der Donauschwaben zu machen. Es wurde ein Film über das Trauma.
Migration ist ein
Thema, dessen Aktualität aus Medienberichten zu entnehmen ist. Konfliktherde in aller
Welt ziehen Migrantenströme nach sich. Menschen, die eine Kriegssituation erlebt
haben, psychischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt waren, erleben eine Aufnahme
als mitunter ungewollte Migranten in einem Asylland.
Migrantenkinder stehen dabei
in manchen Fällen inmitten einer Auseinandersetzung zwischen den Gebräuchen ihrer
Eltern und den gesellschaftlichen Normen, die das Gastland ihnen anbietet. Als donauschwäbisches
Migrantenkind der 2. Generation habe ich die Auswirkungen dieser Migration in meinem
familiären Umfeld seit meiner frühesten Kindheit erlebt.
Vertreibung, Flucht nach
längerem Lageraufenthalt, dabei persönlich erlebte Not und Elend sowie Bewältigung
von traumatisierenden Gewalterfahrungen waren nicht nur in unserer Familie sondern
in den meisten Migrantenfamilien des Freundeskreises meiner Eltern gegenwärtig.
Eine
ausreichende Aufarbeitung der Kriegsereignisse und der daraus resultierenden psychischen
Folgen fand in meiner Familie, wie auch in vielen anderen Familien, nicht in ausreichendem
Maße statt.
Über 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, nach erreichter gesellschaftlicher
Integration in ihrem Gastland, stellt die Geschichte meiner Eltern und Großeltern,
die Teil einer deutschen Siedlungsgemeinschaft in der Vojvodina gewesen waren, immer
noch einen wesentlichen Teil meiner Vergangenheit und Gegenwart dar. Es ist eine
Geschichte, die sich wie ein roter Faden durch mein Leben zieht und nach Stellungnahme
verlangt.
Auf meinen Reisen in die Vojvodina wollte ich vielleicht auch die Heimat
meiner Eltern und Großeltern wieder finden. Ich fand Deutsche im Alter meiner Eltern,
die heute noch dort leben. Diese Menschen verbindet mit ihnen ein gemeinsamer Geist,
eine gemeinsame Anschauung und Denkensweise, vor allem aber eine gemeinsame Vergangenheit.
Und ich begann mich zu fragen, wie viel dieser Vergangenheit Teil meiner Gegenwart
ist.
Krieg hinterlässt Wunden. Heroische Denkmäler, Inschriften, Kriegsgräber in
fast allen Städten zeugen vom Kampf, von Helden, von Schlachten. Geschichtsbücher
sind gespickt mit strategischen Auseinandersetzungen, mit Kriegszügen, mit Schlachten,
mit Finten, ... Aber welche Spuren haben diese Kriege in den Köpfen der Menschen
hinterlassen?
Es ist es vor allem die Angst. Angst ist eine Reaktion der Psyche auf
eine Situation, die die persönliche Existenz eines Menschen bedroht. Die natürliche
Reaktion darauf ist der Fluchtreflex. Menschen, die nicht fliehen können, weil sie
aufgrund von Umständen an einen Ort oder einen familiären Kontext gebunden sind,
erleben in dem Gefühl der Angst auch ein Gefühl der Hilflosigkeit. Die natürliche
Reaktion des Organismus wird unterbunden, der Mensch verharrt in der für ihn lebensbedrohenden
Situation, er entwickelt Strategien zu überleben, sich zu reduzieren, um zu überleben.
Wird dieser Angst ihre Berechtigung genommen, verflüchtigt sie sich, wird verdrängt,
weil die Ursache dafür nicht mehr vorhanden ist. Wird die Angst nicht aufgearbeitet
und der kausale Zusammenhang nicht wiederhergestellt, entsteht das Trauma, die Lebensangst.
Diese Lebensangst, eine Angst scheinbar ohne unmittelbare Begründung, habe ich in
meiner Familie erlebt. Diese Angst zu verstehen, ohne die Zusammenhänge dafür ergründen
zu können, war für mich als Kind unmöglich. In meinem Film mache ich mich auf die
Suche nach der Angst in jedem der Menschen, die ich interviewe. Es ist die Angst
um jemanden, die Angst vor jemandem. Es ist die verdrängte Angst, die überspielte
Angst, die kontrollierte Angst und vor allem die einst berechtigte Angst. In diesem
Film versuche ich, den Menschen die Berechtigung für ihre Angst wieder zu geben.
Denn in einer Kriegsituation gibt es Gründe genug, Angst zu haben. Diese Angst aufzuarbeiten
war und ist eine Lebensaufgabe der Protagonisten dieses Films.
Seit Beginn meiner
Auseinandersetzung mit der Geschichte der Donauschwaben stellte ich mir folgende
Fragen:
Was bewegt Menschen zu flüchten, eine seit Generationen bestehende Siedlungsgemeinschaft
aufzugeben, eine Existenz als Bauern und Handwerker hinter sich zu lassen und sich
mit Pferd und Wagen, teilweise zu Fuß, auf den Weg nach Nirgendwo zu machen? Keiner
von ihnen weiß, wohin die Reise geht. Sie lassen alles zurück, nehmen nur das Nötigste
mit und das, was sie am meisten lieben, mit dem sie besondere Gefühle verbinden.
Andere sind geblieben. Sie werden in Lager deportiert, in denen sie Zwangsarbeit
leisten, sie erleben das Sterben von Nachbarn, Freunden, Bekannten. Waren es unschuldige
Opfer? Was bewegte die einen, zu fliehen, die anderen, zu bleiben? Was war in dieser
Situation gut und richtig?
Meine Interviewpartner haben diese Fragen zum Teil unaufgefordert
beantwortet. Jeder für sich hat seine persönliche Motivation oder die Motivation
seiner Eltern und seiner Familie, seine persönlichen Erlebnisse und Bindungen dargestellt.
Sie haben ihre Konflikte, ihre Zweifel, ihre Ängste und Nöte geschildert.
Persönliche
Gespräche bringen diese Erlebnisse in das Bewusstsein des Zuhörers. Menschen erzählen
Geschichten, die sie selbst erlebt haben. Aufgrund von Andeutungen, Satzteilen und
Nebenbemerkungen treten tief im Bewusstsein verschüttete Erinnerungen zu Tage und
machen deutlich, dass etwas Furchtbares mit ihnen passiert sein musste.
Diese Geschichten
habe ich als aktiver Zuhörer der donauschwäbischen Protagonisten erlebt. Durch meinen
Hintergrund als Kind donauschwäbischer „Heimatvertriebener“ konnte ich den Interviewten
ein aufrechtes Gefühl von Verständnis vermitteln. Dies ermöglichte mir, auf belastende
Erlebnisse näher einzugehen und ihre Geschichte hinter der Geschichte zu erfahren.
Persönliche Motivation -